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Industrie 4.0 – Das flexible Fließband?

Kennzahlenorientierte Produktionssteuerung mit Qualicision


Als Sinnbild für die Automobilproduktion steht seit dem frühen 20. Jahrhundert eine Produktionsstraße, auf der in einem physisch vorgegebenen Weg Fahrzeuge gefertigt werden. Doch vor dem Hintergrund von hochflexiblen Industrie 4.0-Produktionsszenarien und -bedingungen werden andere mögliche Produktionsorganisationen immer häufiger betrachtet.


 

Auch die Automobilindustrie untersucht im Kontext der Digitalisierung die Frage eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels – weg von der ordnungsgebenden, physischen Kraft des Fließbandes hin zur sich selbst organisierenden Produktionsform, bei der sich die Aufträge eigenverantwortlich durch frei angeordnete Arbeitsstationen ihren Weg bahnen.

Eine neue, flexible Logik des Durchlaufens der Arbeitsstationen könnte dabei die physisch vorgegebene Ordnung des Fließbandes nach und nach ersetzen. Diese neue Ordnung verspricht, zukünftig den scheinbaren Widerspruch zwischen der wachsenden Individualisierung der (Massen-)Produktionsaufträge und dem Ziel einer flexiblen Organisation der Produktionsprozesse aufzulösen.

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Mobilgeräte mit Qualicision-Simulation.

Montageband versus Variantenvielfalt

Gerade die Automobilbranche stellt sich dem stetig steigenden Wunsch nach Flexibilität in der Produktion angesichts der individuellen Vielfalt der Kundenwünsche, wie ein Fahrzeug konfiguriert werden soll. Eine enorme Variantenvielfalt entsteht hier durch die Kombination von einer ohnehin schon großen Anzahl an Modellen und den darüber hinaus zahlreichen Möglichkeiten, die jedem Kunden bei der Konfiguration seines eigenen Fahrzeuges zur Auswahl gestellt werden. Über eine Milliarde Varianten sind auf diese Weise modellabhängig vorhanden.

Bislang tritt die Branche dieser daraus resultierenden Komplexität mit einer aufwendigen Planung der Montagelinie, die, einmal geplant, über die gesamte Lebensdauer eines Fahrzeugmodells im Wesentlichen unverändert angeordnet bleibt, gegenüber. Hierbei ist das Montageband mit seiner physisch festen Anordnung der Produktionsressourcen nicht nur für intralogistische Prozesse fest sondern auch für die Steuerung der Produktion voraussetzungsbildend. Diese als Sequenzierung bekannte Produktionssteuerung ist der ordnungsgebenden Kraft der physisch festgelegten Fließbandstruktur ausgesetzt. Diese Struktur determiniert durch die physischen Restriktionen und Vorgaben sehr stark die angeschlossenen Zulieferprozesse und die notwendige Logistik. Die physisch vorgegebene restriktive Ordnung resultiert beispielsweise in der Vorgabe von Mindestabständen, die zwischen Aufträgen (Fahrzeuge) mit bestimmten Ausstattungsmerkmalen in der Montagesequenz einzuhalten sind, bei gleichzeitiger Vorgabe von Gleichverteilungen der Ausstattungsmerkmale der Aufträge.

Trotz des offenkundigen Vorteils der Beherrschbarkeit dieser Organisation – beherrschbar, da einmal festgelegt, bleibt das Fließband viele Jahre über die gesamte Dauer des Modelllebenszyklus unverändert. Bei in Zukunft zu erwartenden Kleinserien und damit deutlich kürzeren Lebenszyklen der Fahrzeugmodelle ist die Ordnung des Fließbandes jedoch nicht flexibel genug. Bei einem Lebenszyklus von beispielsweise drei Monaten statt sechs bis sieben Jahren, hieße das, das feste Fließband einmal pro Quartal physisch umzuorganisieren. Ein solcher Vorgang wäre mit der Ordnung des Fließbandes sicher nach wirtschaftlichen Kennzahlen (KPIs, Key Performance Indicators) nicht mehr darstellbar.

Die selbstorganisierende Produktion – Ein Traum des Zeitalters Industrie 4.0

Selbstorganisierendes Cyber-Physisches-System am Fraunhofer IML.Copyright: PSI FLS
Selbstorganisierendes Cyber-Physisches-System am Fraunhofer IML.

Der Traum wäre, die Struktur der Arbeitsstationen einmal nur, frei stehend in der Produktionshalle funktions-  aber nicht modellgebunden räumlich festgelegt aufzustellen, so dass alle notwendigen Produktionsfunktionen der künftigen Modelle vertreten durch die entsprechenden Arbeitsstationen vorhanden wären und die Aufträge sich dann selbst den Weg durch die Produktionsstruktur bahnen würden. Vorausgesetzt die Aufträge „wissen jeweils selbst“, was mit Ihnen geschehen soll, dann könnten sie doch selbst entscheiden in welcher Sequenz sie welche Arbeitsstation wann passieren. Wären die Arbeitsstationen zudem noch redundant ausgelegt, stiege die Flexibilität zusätzlich.

Das Industrie-4.0-Szenario mit der Möglichkeit der Digitalisierung von Gegenständen samt der Vernetzung verorteter und sich selbst organisierender Gegenstände – hier Aufträge und Arbeitsstationen – bietet diese Möglichkeiten. So weit so gut.

Was ist jedoch der Nachteil einer solchen Flexibilität? Der Nachteil ist, dass bei voller Flexibilität der Produktionsstruktur dem Produktionsprozess die bisher durch die physische Struktur des Fließbandes vorgegebene Ordnung fehlt. Daher bedarf es einer neuen Art Ordnung. Der revolutionäre Gedanke ist, die bisherige physische Ordnungsstruktur des Produktionsprozesses durch eine logische Ordnungsstruktur zu ersetzen. Die autonomen Entscheidungen der Aufträge, die sich den Weg durch die Produktion bahnen, sollen technischen und wirtschaftlichen Prinzipien logisch folgen.

Nachgefragt

Die Automobilbranche gilt in Sachen Industrie 4.0 als Vorreiter. Das belegt zum Beispiel auch das Projekt SMART FACE im Rahmen des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Programms Autonomik 4.0.

Auch das PSI-Unternehmen PSI FLS Fuzzy Logik & Neuro Systeme GmbH zählt zu dem Konsortium, das sich aus Unternehmen der Automobil- und Automobilzulieferindustrie, aus der Logistik- und IT-Branche sowie schließlich aus Instituten der angewandten und der direkten Forschung zusammensetzt. Mit dem PSI FLS-Geschäftsführer, Herrn Dr. Rudolf Felix, sprachen wir über die Ziele des Projekts und die These vom bevorstehenden Paradigmenwechsel der Orientierung nach Prozess-KPIs als neue, ordnungsgebende Kraft in der industriellen Fertigung.

PM: Herr Dr. Felix, das Forschungsprojekt SMART FACE ist ein guter Beleg dafür, dass Industrie 4.0-Szenarien längst nicht mehr nur Visionen sind. Können Sie kurz beschreiben, worum es in dem Vorhaben geht?

Dr. Felix: SMART FACE beschäftigt sich mit der Erprobung des beschriebenen und sich abzeichnenden Paradigmenwechsels einer Produktion ohne ein Montageband als Ordnungsprinzip, ganz konkret am Beispiel einer Kleinserienfertigung von Elektrofahrzeugen.

PM: Können Sie ausführen, warum das Montageband in der Smarten Fabrik nur flexibilisiert Zukunft hat?

Dr. Felix: Bislang findet der Planungsprozess in der Automobilindustrie in mehreren Hierarchiestufen statt. Beginnend bei einer Jahresplanung ermittelt dieser Prozess über die Grobplanung im ERP-System bis hinunter zur Wochen- und Tagesplanung Bedarfe für die Bauteile und die Komponenten auf Basis der Stücklisten und gibt diese an die angeschlossenen Lieferanten in Form von JIT- und JIS-Aufträgen weiter. Je tiefer die Hierarchiestufe, desto kleiner der verbleibende Handlungsspielraum und desto größer die Aufwände für Änderungen der Produktionssequenz.

PM: Das heißt also, dass die Lösung für diese Herausforderung in der Erhöhung des Handlungsspielraums liegt?

Dr. Felix: Genau das ist das Ziel. Und dafür muss das alte, physische Ordnungsprinzip flexibilisiert oder gar durch ein neues Prinzip ersetzt werden. Im Projekt SMART FACE wird die Taktung der Tagesplanung aufgelöst und in ein selbstorganisierendes Cyber-Physisches-System überführt. Die Aufträge kommunizieren selbstständig mit den Montagestationen und diese wiederum mit den Versorgungsinseln. Dabei wird innerhalb eines definierten Zeitfensters ein Auftragspool eigenständig abgearbeitet. Der entstehende Volumentakt geht schließlich mit der angestrebten Vergrößerung des Planungsspielraums und damit der Flexibilisierung des gesamten Steuerungsprozesses einher. Der Planungsspielraum wird durch die Optimierung gemäß der Prozess-KPIs genutzt. So erhält der Prozess seine flexible Ordnung.

Kennzahlenorientierte Produktionssteuerung

Hier schlägt die Stunde der Qualicision-basierten KPI-Optimierung, die schon heute in weltweit über 50 Automobilfabriken im Einsatz ist. Heute sind die zugrunde gelegten KPIs so angelegt, dass sie im Wesentlichen die physische Struktur des Produktionsprozesses abbilden. Aktuell werden Auftragssequenzen noch überwiegend gemäß den physischen Auftragseigenschaften gebildet.

In Zukunft, und dies ist für die Qualicision-Mathematik keine Hürde, werden die physischen KPIs durch wirtschaftliche Industrie-4.0-KPIs ergänzt.

Im Ansatz ist dies heute bereits schon der Fall und zwar in denjenigen Automobillinien, deren Sequenzen nach zeitlich festgelegten Kapazitätseigenschaften der Arbeitsressourcen gebildet werden. Erstmals dienen hier zur Optimierung von Auftragssequenzen Arbeitskapazitäten in Form von Arbeitszeitbedarfen als KPIs.

Das Industrie 4.0-Szenario geht hier bei der neuen Organisation des Produktionsprozesses noch einen Schritt weiter und lässt die sich selbst steuernden Aufträge nach neuen KPIs entscheiden. So bewegen sich die teilfertigen Fahrzeuge (Aufträge) auf fahrerlosen Transportsystemen und entscheiden auf Basis der vorgegebenen KPI-Kennzahlen selbst, welche Arbeitsstation sie als nächstes anfahren. Die Versorgung der Arbeitsstationen mit Material und Bauteilen erfolgt ähnlich. Auch die Stationen entscheiden auf Basis der Bedarfsanforderungen selbst, wann sie über ebenfalls fahrerlose Transportsysteme versorgt werden wollen.

Grundvoraussetzung hierfür ist die Kommunikation der Gegenstände untereinander – in diesem Falle der Aufträge sowie der Transport- und Versorgungsstationen. Dabei ist die Vernetzung beliebiger Gegenstände, Maschinen und Menschen untereinander – das „Internet of Things“ beziehungsweise das „Internet of Things and People“ – hinsichtlich der technischen Machbarkeit längst keine Fiktion mehr.

Beachtenswert ist, dass ein für die Umstellung der Produktionssteuerung benötigtes Software-Tool in Form der Qualicision-basierten, multikriteriellen Optimierung bereits praxiserprobt ist und letztendlich „nur“ mit weiteren Industrie 4.0-KPIs neu zu versorgen ist. Dass dies auch noch über den Weg harter Arbeit erfolgen muss, ist klar. Die Machbarkeit braucht jedoch nicht in Frage gestellt zu werden. Ganz im Gegenteil.

Der Paradigmenwechsel

Der Prozess ist bereits in vollem Gange. Das neue Ordnungsprinzip des Zeitalters Industrie 4.0 wird die KPI-orientierte Optimierung sein. So vollzieht sich ein echter Paradigmenwechsel weg von der physischen Ordnungsgebung des Fließbandes hin zur logischen Ordnungsgebung der KPIs. In der Automobilbranche zeigen neue Tendenzen einer kennzahlenoptimierten Fertigung, wie sehr Industrie 4.0 eine logische Weiterentwicklung industrieller Fertigung ist, die wohl erst rückblickend und dann durchaus treffend als Revolution zu bezeichnen ist.

Eine KPI-orientierte Fertigung, in der Aufträge ihren optimalen Produktionsweg selbst bestimmen, lösen in Zukunft die starre, physische Ordnungskraft eines Montagebandes ab. Die Software hierfür gibt es bereits. Die KPI-Kennzahlensysteme müssen noch entstehen. Erste Ansätze gibt es bereits.