BMW peilt erfolgreich über den Daumen

Computerwoche, Ausgabe 42/2002

BMW peilt erfolgreich über den Daumen

MÜNCHEN (mo) - Rund 30 Tage, bevor ein BMW vom Band lief, begann bei dem bayerischen Fahrzeugbauer früher die Fertigungsplanung. Mit dem Einsatz einer Fuzzy-Logic-basierenden Software konnte das Unternehmen diese Frist auf zwölf Tage verkürzen. Davon profitieren auch Kunden und Zulieferer.

Zwei Wochen, bevor das neue Auto hätte ausgeliefert werden sollen, gab Andreas Huber endlich nach. Nun sollte es doch das Automatikgetriebe sein, auf das seine Frau so lange gedrungen hat. Ihm wäre ja das sportliche Schaltgetriebe lieber gewesen, doch er hatte die ständigen Diskussionen satt. Missmutig machte er sich auf dem Weg zu seinem BMW-Händler - in der festen Überzeugung, nun weitere sechs Wochen auf das neue Auto warten zu müssen. Doch er wurde angenehm überrascht. "Kein Problem, dann bauen wir halt ein Automatikgetriebe ein", sagte der Berater und änderte die Bestellung am Computer.
Der Auslieferungstermin verschob sich nicht. Andreas Huber ist kein Einzelfall. Jeden Monat erreichen den Münchner Automobilhersteller rund 120000 Änderungswünsche. Bei jedem zweiten Auto wird die Ausstattung nach der Bestellung noch einmal, zum Teil sogar mehrfach geändert. Bis vor zwei Jahren waren Modifikationen in diesem Umfang ohne zeitliche Auswirkungen kaum möglich, da sie den Produktionsprozess empfindlich gestört hätten. Bereits rund 30 Tage bevor das Auto vom Band lief, begann die Fertigungsplanung.
Mit dem "Kundenorientierten Vertriebs- und Produktionsprozess" (KOVP) hat MBW seit 2000 die Produktionszeiten drastisch verkürzt und gleichzeitig die Herstellung aus Kundensicht viel verlässlicher gemacht. Der innovative Prozess wurde bei den neuen BMWs der 7er-Reihe erstmalig umgesetzt und soll auch bei allen künftigen Modellen zum Einsatz kommen. "Nun beginnt die Fahrzeugendmontageplanung erst zwölf Tage, bevor das Auto an den Kunden ausgeliefert wird", erläutert Johann Köppl, für den logistischen und produktionstechnischen Projektumfang von KOVP in der BMW Group verantwortlich. Bei Änderungen bis zu dieser Frist wird der zugesagte Liefertermin fast immer eingehalten. Auch die Zulieferer erhalten mehr Planungssicherheit. Anstatt binnen weniger Stunden die angeforderten Teile Just-in-Time oder sogar Just-in-Sequence ans Band liefern zu müssen, haben sie nun zirka sechs Tage Vorlauf.

Händler greifen online auf BMW-IT zu

Im Rahmen von KOVP hat die BMW Group ihren Verkaufs- und Produktionsprozess komplett neu strukturiert. Schon bei der Bestellung eines Autos greift der Händler online auf die DV-Systeme bei BMW zu. Binnen fünf Sekunden werden die Fertigungskapazitäten überprüft und das Fahrzeug für eine Produktionswoche verbindlich eingeplant.
"Der Kunde weiß also sofort, wann er sein Auto bekommt", erläutert Köppl. Sechs Tage vor Montagestart ist endgültig Schluss. Der Status für die dann zu planende Produktionswoche wird eingefroren. Änderungen sind nicht mehr möglich. Weitere zwei Tage benötigt die kundenindividuelle Fertigung des Fahrzeugs, und drei Tage werden für Auslieferung und Bereitstellung beim Händler veranschlagt. Die Arbeit des Planers beginnt sechs Tage vor Montagestart. Vier Stunden hat er Zeit, um eine optimale Produktionsreihenfolge für die zu fertigenden Fahrzeuge in einem Werk festzulegen - eine Herkulesaufgabe. Allein am Produktionsstandort Dingolfing werden Täglich mehr als 1250 Autos gebaut, in Regensburg laufen jeden Tag über 850 Fahrzeuge vom Band.
"Kaum eines der Autos ist gleich", berichtet Köppl. Die Fahrzeuge werden individuell nach Kundenauftrag gefertigt. Von den Bestellungen großer Flottenabnehmer abgesehen, sind im Schnitt pro Jahr nur zwei Autos identisch. Die möglichen Varianten summieren sich über die Produktpalette auf eine astronomischen Zahl mit 32 Nullen. "Die Fertigung in allen Details zu berechnen war mit früheren Techniken in dieser kurzen Zeitspanne unmöglich", erinnert sich Andreas Brinkmann, bei der BMW AG im IT-Bereich für Reihenfolgeoptimierung zuständig.
Mit statistischen Methoden wurde zunächst der Bedarf geschätzt, dann im Rohbau die jeweils benötigte Zahl der verschiedenen Karosserien hergestellt. An diesen Fertigungsschritt schloss sich ein Re-Sortierungslauf an. In der so berechneten Konfiguration kamen die Teile dann in den Karosserierohbau, und anschließend wurde die Rohkarosserie lackiert. Danach bestimmte ein erneuter Re-Sortierungslauf die endgültige Reihenfolge in der Fahrzeugmontage. "Mit unserer neuen Software planen wir nun den gesamten Prozess - vom Rohbau über die Lackierung bis hin zur Montage", beschreibt Brinkmann die neue Technik. Möglich macht dies eine auf Fuzzy-Logic basierende Software. Maximal eine Minute benötigt das Programm, um die Montagereihenfolge einer Tagesproduktion zu berechnen. Ist die Planung für einen Produktionstag abgeschlossen, wird der Teilebedarf aus Rohbau und Lackiererei für diesen Tag zusammen mit den Teilen, deren Produktion bereits begonnen hat, binnen 15 bis 30 Minuten quasi zurückgerechnet. Die Planung ist Aufgabe von "Qualicision", einer Software der FLS Fuzzy Logik Systeme GmbH, Dortmund. Für jedes zu bauende Fahrzeug berücksichtigt sie sämtliche Ausstattungsmerkmale, von der Motorisierung bis hin zum Lenkradbezug. Darüber hinaus beachtet sie 70 bis 100 Randbedingungen. Zum Beispiel darf nur maximal jedes zweite Fahrzeug mit einem Automatikgetriebe ausgerüstet sein, sonst wird die Auslastung für die Arbeiter am Band zu groß.

Ein bisschen wahr oder nicht ganz falsch

Um die Lackierroboter betriebswirtschaftlich optimal zu nutzen, müssen dagegen die Farbwechsel auf ein Minimum reduziert werden. Nicht zuletzt werden auch die Zulieferer in die Berechnungen einbezogen: Deren Auslastung muss möglichst gleichmäßig sein, so dass nicht plötzlich zwei Tage lang keine Ledersitze mehr benötigt werden. In der Software lassen sich diese Anforderungen hinterlegen: Gleichverteilung von Ausstattungsmerkmalen, Mindestabstände, Pulk-Bildung Maximalabstände etc. Oft sind das keine harten Kriterien.
"Beim Einbau des Navigationssystems können wir auch damit leben, wenn einmal zwei Fahrzeuge direkt hintereinander damit ausgerüstet werden - auch wenn eigentlich nur jedes zweite Fahrzeug so eingeplant werden sollte", so Brinkmann. Diese Unschärfen in den Kriterien sind die Domäne der Fuzzy-Logik-Komponenten von Qualicision. Anders als bei der klassischen Logik, bei der eine Aussage nur wahr oder falsch sein kann, darf eine Aussage hier auch ein bisschen wahr oder nicht ganz falsch sein. Fuzzy-Logik ist die Bezeichnung für alle Methoden, die sich mit der Modellierung von Daten und Regeln befassen, die ganz oder teilweise in unscharfer oder qualitativer Form vorliegen. Sie hilft überall dort weiter, wo menschliches Expertenwissen nur mit komplizierten Modellen oder überhaupt nicht klassisch beschreibbar ist.

Keine optimale Lösung im eigentlichen Sinn

In der Fertigungsplanung der BMW Group geben die Planungsspezialisten ihre Prioritäten in das System ein: Soll das Programm mehr Wert darauf legen, dass bestimmtes Zubehör gleichverteilt über den Tag eingebaut wird, oder ist es wichtiger, dass alle schwarzen Autos hintereinander weg lackiert werden? Auf diese Weise fließt auch die langjährige Erfahrung der Planer in den Optimierungsprozess ein.
Je nach Vorgabe errechnet die Software in wenigen Sekunden eine Produktionsreihenfolge, die den verschiedenen Randbedingungen so gut wie möglich Rechnung trägt. Sagt das Ergebnis dem Planer nicht zu, kann er die Parameter ändern oder gegebenenfalls auch von Hand in die Abfolge eingreifen, bis er die in seinen Augen beste Lösung gefunden hat.
"Bei solchen Aufgabenstellungen gibt es keine optimale Lösung im eigentlichen Sinn, da das Optimum von den persönlichen, betrieblichen und situativen Präferenzen abhängt", erläutert Rudolf Felix, Geschäftsführer der FLS Fuzzy Logik Systeme. Durch diese Art der Problembehandlung ist die Fuzzy-Logik klassischen Optimierungsverfahren weit überlegen. Das war dem IT-Experten Brinkmann schon klar, als er den Auftrag für die neue Software ausgeschrieben hat: "Wir haben bei uns im Haus mehr als zehn Jahre Erfahrung mit der Optimierung der Fertigung. Daher haben wir uns bei dieser Aufgabenstellung nur auf moderne Ansätze, wie Fuzzy-Logik, genetische Algorithmen und Simulated Annealing konzentriert."

Schnelle Reaktion bei Lieferengpässen

Um die richtige Software zu finden, ließ Brinkmann sechs Anbieter gegeneinander antreten. An einer realen Tagesproduktion sollten die Tools zeigen, was sie können. Um Vergleichbarkeit herzustellen, errechnete Brinkmann mit entsprechendem Zeitaufwand eine optimale Konfiguration auf der Basis einer mathematischen Funktion. Damit konnte er feststellen, wie nahe die in den Benchmark einbezogenen Werkzeuge an das Optimum herankamen.
Eine hohe Rechengeschwindigkeit benötigt Brinkmann vor allem für die laufende Fertigung. Das Programm kommt nämlich nicht nur für die Vorabplanung zum Einsatz, sonder in der laufenden Produktion. Zum Beispiel muss die Reihenfolgeplanung angepasst werden, wenn es einen Engpass bei der Teilezulieferung gibt oder außergewöhnliche Umstände eintreten. "Ein regelmäßig auftretendes Ereignis ist zum Beispiel neben den produktionsbegleitenden Qualitäts-sicherungsmaßnahmen die Aussortierung einer Karosserie durch unsere Qualitätssicherung für umfassende Prüfungen", zeit KOVP-Projektleiter Köppl auf.
Zufällig wird eine Rohkarosserie ausgewählt, dem Produktionsprozess entnommen und intensiv auf Fehler hin untersucht. "Früher musste der Kunde dann länger auf sein Auto warten", erinnert sich Köppl. Heute schlägt die Software dem Produktionsplaner n Sekunden eine andere Karosserie vor und berechnet die neue Produktionsreihenfolge, mit der sämtliche eingeplanten Fahrzeuge auch gebaut werden können. "Der zugesagte Auslieferungstermin wird von uns möglichst immer eingehalten", versichert Köppl.
Mit der Termintreue erfüllt die BMW Group bereits eine wichtige Anforderung der selbst gesteckten Ziele im Rahmen des KOVP-Prozesses. An einem weiteren arbeitet das Unternehmen noch: Die Reduzierung der Prozesszeit für Produktion und Distribution innerhalb Deutschlands auf zehn Tage. Dass der Automobilhersteller zurzeit bei Zwölf Tagen liegt, hat seine Ursachen nicht in der DV, sondern in anderen Faktoren, zum Beispiel in der notwendigen Einbeziehung von Zulieferern und Spediteuren. "Die etablierten Lieferantenbeziehungen bei den derzeit laufenden Produkten können wir nicht von heute auf morgen ändern", begründet Köppl seine Gelassenheit. Die DV sei jedenfalls vorbereitet. Die Optimierungssoftware wird mittlerweile in fast allen Produktionswerken der BMW Group eingesetzt. Rund ein Jahr hat es gedauert, bis das Programm nach der Auswahlentscheidung im Mai 2000 produktiv gegangen ist. Zurzeit läuft der internationale Rollout sowie die Einführung in den Technologien Rohbau - und Oberfläche. Die Software soll in naher Zukunft in allen Werken der BMW Group zum Einsatz kommen - außer beim Tochterunternehmen Rolls-Royce Motorcars. Bei der Nobelmarke ist die tägliche Fertigungsanzahl überschaubar.